Zusammendenken und Zusammenleben.

Prof. Ottmar Ette
Prof. Ottmar Ette


Zusammendenken und Zusammenleben.
Alexander von Humboldt als Herausforderung
für das Humboldt-Forum

Am 11.März hielt Prof.Ottmar Ette bei Spree-Athen einen Vortrag zum Thema "Alexander von Humboldt und die Globalisierung", wobei er gleichzeitig sein frisch erschienenes Buch mit gleichem Titel vorstellte.

Wenngleich der vorliegende Text nicht als Manuskript dieses Vortrags zu verstehen ist, sind die Kerngedanken des Abends in perspektivisch leicht versetzter Form treffend wiedergegeben.

Prof. Ottmar Ette ist seit 1995 Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam.
Neben zahlreichen Gastdozenturen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas sowie in den USA war er 2004-2005 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Seine Buchpublikationen zum Thema Alexander von Humboldt umfassen u.a. A.v.Humboldt: Reise in die Äquinoktial-Gegenden (1991), Weltbewusstsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne (2002) sowie Alexander von Humboldt und die Globalisierung (2009).

Zusammendenken und Zusammenleben.
Alexander von Humboldt als Herausforderung für das Humboldt-Forum

Von Ottmar Ette


Mexico übte auf Alexander von Humboldt eine besondere Faszinationskraft aus. Es ist keineswegs ein Zufall, daß er vor dem Hintergrund eines Europa im Zeichen des Wiener Kongresses, im Zeichen der Restauration ernsthaft erwog, in die Hauptstadt des damaligen Neu-Spanien überzusiedeln und seinen Lebensmittelpunkt in die Neue Welt zu verlegen. Mexico war für ihn ein Brennspiegel der Kulturen: Hier hatte er aus unterschiedlichen Räumen und Zeiten stammende Kunstwerke auf engstem Raum zusammengedrängt nebeneinander gesehen, eingebettet in den Verbund einer Reihe unterschiedlichster kultureller und wissenschaftlicher Institutionen, deren Aufschwung den jungen Preußen ungeheuer beeindruckt hatte. Die Hauptstadt des damaligen Neu-Spanien, so vermerkte er in seinen Ansichten der Kordilleren, sei "heute mit den schönsten Städten Europas vergleichbar". Und in seinem Essai politique, seinem Politischen Versuch über das Königreich Neu-Spanien, schrieb er begeistert, daß "Keine von allen Städten des neuen Kontinents, selbst die der Vereinigten Staaten nicht ausgenommen", sich "im Besitz so großer und fest gegründeter wissenschaftlicher Anstalten wie die Hauptstadt von Mexico" befinde.

Doch es gab noch mehr. Humboldt nennt die berühmte "Bergschule", das Colegio de Minería, oder den Botanischen Garten, verweist vor allem aber auf die "Maler- und Bildhauer-Akademie" der Academia de las nobles artes de México, die unter dem besonderen Schutz der damaligen kolonialspanischen Verwaltung stehe: "Die Regierung hat ihr ein geräumiges Gebäude angewiesen, worin sich eine weit schönere und vollständigere Sammlung von Gipsabgüssen befindet, als man sie irgendwo in Deutschland antrifft. Man erstaunt darüber, wie der Apoll von Belvédère, die Gruppe des Laokoon und andere noch kolossalere Statuen über Gebirgswege, welche wenigstens so eng sind wie die des St. Gotthard, gebracht werden konnten, und ist nicht minder überrascht, die Meisterwerke des Altertums unter der heißen Zone und auf einem Plateau vereinigt zu sehen, welches noch höher liegt als das Kloster auf dem Großen St. Bernhard." In diesem Gebäude, so Humboldt, "sollte man die Reste mexikanischer Bildhauerei, die kolossalen Statuen von Basalt und Porphyr, welche mit aztekischen Hieroglyphen bedeckt sind und manche Ähnlichkeit mit dem Stil der Ägypter und Hindus haben, gesammelt aufstellen". Denn wäre es nicht von ungeheurem Reiz, diese künstlerischen Zeugnisse so unterschiedlicher Kulturen, Räume und Zeiten an einer einzigen Stelle vereint zu sehen? Könnte man hier nicht Verbindungen herstellen, die andernorts unbekannt, unentdeckt bleiben müßten?

Auch wenn Alexander von Humboldt im weiteren Verlauf seiner Überlegungen den kulturellen Meridian durch die abendländische und nicht durch die amerikanische Antike zog, so macht sein Entwurf eines derartigen musée imaginaire doch deutlich, was sich der Autor der Ansichten der Natur wünschte: ein möglichst vielperspektivisches Zusammenführen und Zusammendenken unterschiedlichster Ansichten der Kultur, die völlig neue, überraschende Bezüge zwischen den Künsten, zwischen den civilisations, herstellen sollten. Zu einem Zeitpunkt, als in Berlin noch nicht die ersten Baupläne für ein Museum kursierten, das wir heute als das »Alte Museum« bezeichnen, und die Idee einer künftigen »Museumsinsel«, zu deren Entwurf Alexanders älterer Bruder Wilhelm so Grundlegendes beisteuern sollte, noch lange nicht konkrete Gestalt angenommen hatte, imaginierte der in Paris lebende und schreibende preußische Gelehrte und Schriftsteller einen musealen Bewegungs-Raum, den man zumindest in seinen Konturen sehr wohl als Museum der Kulturen der Welt bezeichnen könnte. Und wäre Mexico - seit dem 16. Jahrhundert im Schnittpunkt transatlantischer wie transpazifischer Austauschbeziehungen gelegen - hierfür in der Tat nicht ein idealer Ort gewesen?

Die für Alexander von Humboldts Wissenschafts- und Denkstil fundamentale Doppelbewegung ist stets die des Auseinander-Setzens und des Zusammen-Denkens. Bereits 1793 schrieb Wilhelm von Humboldt, der eigentliche Schöpfer der Berliner Universität und des lange Zeit für Deutschlands guten Ruf so prägenden Universitätsmodells, über seinen jüngeren Bruder, dieser sei prädestiniert dafür, "Ideen zu verbinden, Ketten von Dingen zu erblicken, die Menschenalter hindurch, ohne ihn, unentdeckt geblieben wären". Alexander sollte das frühe Versprechen seines Bruders einlösen. Dabei ergänzte er in seinem Kosmos und damit mehr als ein halbes Jahrhundert später, es gehe ihm nicht um einfache "lineare Verkettung", sondern um "netzartig verschlungene Gewebe". Man begreift, wie sehr ihn die Bifurkation des Casiquiare im ständig sich verändernden Flußnetz zwischen Orinoco und Amazonas anziehen mußte: Es ist die lebendige, dynamische Kartographie seines Denkens: Eines Denkens, das sich in ständiger Bewegung befand und ein wahres Mobile des Wissens entfaltete, in dem alles mit allem verbunden scheint.

Aus diesem Blickwinkel gewinnt ein zentrales Axiom Humboldtscher Wissenschaft seine volle Bedeutung: "Alles ist Wechselwirkung." Alexander von Humboldt war zweifellos einer der großen Denker der Relationalität: Nichts steht bei ihm für sich allein. Jedes enzyklopädische Systemdenken, das er in seinen Schriften oft genug als pensée de système abqualifizierte, ist ihm verhaßt. Erst durch die Verknüpfung unterschiedlichster Wissenssegmente »zwischen« den Kulturen, durch den Austausch quer zu den disziplinären und disziplinierenden Grenzziehungen, entstehen Innovationen, die den Spezialdisziplinen wiederum neue Impulse geben - und zugleich neue Einsichten in das weltweite Gewebe von Natur und Kultur eröffnen.

So ließe sich Humboldt vielleicht am besten als ein Wissenschaftsnomade in ständiger Bewegung zwischen den Disziplinen, zwischen den Sprachen, zwischen den Kulturen begreifen. Schon im Revolutionsjahr 1789 bezeichnete sich der Zwanzigjährige humorvoll, aber mit Bedacht als "Fremdling" zwischen den Wissenschaften und verstand auch später seine Arbeit als den Versuch, zwischen den sich immer weiter ausdifferenzierenden Disziplinen möglichst viele Drehtüren, Durchgänge und Durchblicke, kurz: neue, das Denken öffnende Wechselwirkungen zu schaffen. Es ging ihm weniger um einen interdisziplinären Dialog zwischen Wissenschaften, die sich nicht wechselseitig transformieren, als vielmehr um ein transdisziplinäres, die Einzeldisziplinen querendes und immer wieder neu aufeinander beziehendes mobiles Agieren: ein Denken aus der Bewegung, ein Denken in Bewegung.

Eine unabdingbare Voraussetzung für ein derartiges Wissenschaftsverständnis war die Entwicklung und Pflege eines möglichst weltweiten Korrespondentennetzes. Wohl an die 35000 Briefe (von denen derzeit mehr als 17000 zugänglich sind) schrieb er, um durch ein weltweites Korrespondentennetz die verschiedensten Disziplinen, aber auch die entferntesten Weltregionen miteinander zu verknüpfen und immer wieder neue Ansichten und Einsichten zu gewinnen. Die konkrete, alltägliche Umsetzung eines derartigen Wissenschaftsverständnisses war gerade mit Blick auf eine sich immer weiter ausdifferenzierende Wissenschaftslandschaft eine titanische Aufgabe. Doch war der Satz Voltaires, dass man nichts ohne Enthusiasmus bewirkt, dem Weltreisenden und Weltschreibenden förmlich auf den Leib geschrieben: Noch im hohen Alter belegen seine Briefe selbst dort, wo sie die Zeichen der Ermüdung tragen, die Handschrift einer wissenschaftlichen Neugierde, die bis zu seinem Tode, bis zum abrupten Ende der Niederschrift seines Kosmos, unvermindert anhielt.

Ein Blick auf die eingangs angeführten Zitate wie auf sein facettenreiches, weitgespanntes Lebenswerk zeigt es: Alexander von Humboldt war nicht nur ein Denker der Relationalität, sondern zugleich auch der Globalität. Mehr noch: Er darf als der erste Globalisierungstheoretiker im eigentlichen Sinne angesehen werden. Auf der Grundlage seiner jahrzehntelangen historischen Studien insbesondere der transatlantischen Beziehungen verstand Humboldt, dass die beschleunigte Globalisierung seiner Zeit ohne die Geschichte und Vorgeschichte der Globalisierung seit dem Ende des 15. Jahrhunderts nicht zu verstehen war. Wenn es für ihn eine Figur gab, an der er sich - nicht ohne Selbstironie - orientierte, dann die des europäischen Entdeckers par excellence, Christoph Columbus alias Cristóbal Colón alias Christophe Colomb.

Alexander, dessen Mutter eine geborene Colomb war, widmete jener berühmten "Eroberung durch Nachdenken" Hunderte von Seiten, ohne dabei die produktive Kraft der Fehler des genuesischen Iberers zu übersehen. Denn wäre Columbus auf seinem angestrebten Weg über den Westen nach Indien aufgrund seiner Unterschätzung der tatsächlichen Distanzen nicht mit Mann und Maus im Meer versunken, wäre ihm nicht im Oktober des jahres 1492 - gerade noch rechtzeitig - Amerika dazwischengekommen? Mit viel Liebe zum Detail machte Alexander von Humboldt sich selbst wie seine Leser in seinen Reflexionen über
Die Entdeckung der Neuen Welt zu Zuschauern jenes historischen Scheiterns, das doch so ungeheuer erfolgreich die Welt wie (im Humboldtschen Sinne) das "Weltbewußtsein" veränderte. Mit Humboldt entsteht nicht nur ein neuer Diskurs über die Neue Welt, sondern eine empirisch fundierte und demokratisch gedachte Welt des Wissens, die möglichst viele und verschiedenartigste Ansichten integrieren sollte.

Weltweite Wechselwirkungen: Das Denken der Globalität aus dem Geiste der Globalisierung ermöglichte Humboldt ein Verständnis des Systems Erde - von den weltweiten Meeres- und Luftströmungen über die von ihm beobachteten und prognostizierten Klimaveränderungen oder Pflanzenmigrationen bis hin zu weltwirtschaftlichen Strömen von Edelmetallen oder Fragen nach dem Zusammenleben der Völker und Kulturen. Er begriff, dass dieses Zusammenleben weltweite Wege des Wissens, globale Kommunikationsnetze braucht: und vor allem auch die Fähigkeit, das auf den ersten Blick weit Auseinanderliegende zunächst empirisch, auf der Basis von Feldforschungen, auseinanderzusetzen, um es dann in möglichst komplexer Weise wieder zusammenzuführen, zusammenzudenken. Der Wille zur Veränderung traditioneller Denkstrukturen verband sich bei ihm mit der Einsicht, daß eine wohldurchdachte Übersetzungsarbeit notwendig war, um die Ergebnisse eines solchen Denkens einer breiteren Öffentlichkeit vorstellen zu können. Denn eine Wissenschaft, die ihr Wissen nicht in die Gesellschaft schafft, verkennt ihre gesellschaftliche Bringschuld und ist zumindest mittelfristig mitschuld, wenn die Gesellschaft sie um ihre Mittel bringt.

Die Querung und auch Verletzung etablierter Grenzziehungen war früh schon ein wesentlicher Bestandteil seines Denk- wie seines Lebensstils geworden. Dass ihm nationale Kleingeister ankreideten, den größten Teil seines Werkes in französischer Sprache verfasst und sich zuviel mit Fremdem beschäftigt zu haben, störte den Republikaner am preussischen Königshofe kaum. Seinen erstaunlich beharrlichen Überzeugungen und Lebensformen blieb er ein langes Leben lang treu. Daß ihn spätere Generationen bis zum heutigen Tag immer wieder gerne ausschliesslich als Naturwissenschaftler oder als Vertreter einer Einzeldisziplin verstanden und Charles Percy Snows These von den Two Cultures gleichsam innerfamiliär mit dem »Geisteswissenschaftler« Wilhlem und dem »Naturwissenschaftler« Alexander zu belegen suchten, hätte er gewiß am liebsten - wie er dies so oft zu Lebzeiten tat - in der Spenerschen Zeitung dementiert. Doch niemand ist letztlich Herr seiner eigenen Rezeptionsgeschichte. Als Querdenker war Alexander von Humboldt, der als Wissenschaftler höchst teamtauglich und als Mensch nie ein Querkopf war, konsequent: Stets waren es gerade die Schnittflächen zwischen den »Zwei Kulturen«, zwischen dem, was wir heute allzu schematisch als Natur- und Kulturwissenschaften unterscheiden, die ihn anzogen und faszinierten.

Wichtig für ihn war in dieser Verbindung zwischen dem, was er als die sciences exactes bezeichnete, und den historisch-kulturellen Gegenständen seiner wissenschaftlichen Arbeit der von ihm zentral gestellte, aber lange Zeit von der Forschung übersehene Lebensbegriff. Die Humboldtsche Lebenswissenschaft ist weit davon entfernt, sich - wie dies in geradezu selbstverständlicher Weise heute geschieht - auf die biowissenschaftlich-medizinische Dimension wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens zu beschränken: Sie bezieht vielmehr im Sinne von gr. bios den ganzen Menschen, gerade auch in seiner kulturellen Verflochtenheit, ein. Davon gilt es heute zu lernen.

Das Humboldtsche Lebenswissen ist in den Schriften wie im Handeln des preußischen Reisenden und Gelehrten allgegenwärtig: Es ist ein Natur und Kultur aufeinander beziehendes Wissen vom Leben, das aus dem Leben selbst schöpft und auf Lebensführung, auf die bewußte Gestaltung individuellen wie kollektiven Lebens im Zeichen der Freiheit, zielt. Es speist sich aus einem Erlebenswissen, das Humboldt literarisch überzeugend - und stets mit einem autobiographischen Augenzwinkern - zu vermitteln verstand. Nicht nur im Salon wusste Humboldt glänzend zu erzählen und seinem Publikum die unterschiedlichsten Gegenstände lebendig vor Augen zu führen. Und diese verlebendigende, ästhetisch anspruchsvolle Darstellungsweise ist keineswegs nur Zierat und Beiwerk, sondern Programm.

All dies beinhaltet ein Bildungsideal: Alexander nahm den Bildungsgedanken seines Bruders Wilhelm auf und entwickelte ihn insofern weiter, als er die transversalen, die verschiedenen Regionen des Wissens wie der Welt miteinander verknüpfenden Aspekte seiner Wissenschaft vielleicht noch pointierter im Spiegel des eigenen Erlebens aufscheinen ließ. Sein Verständnis von Bildung war zutiefst relational und global konzipiert. Es orientierte sich an einem "Weltbewusstsein", auf dessen Landkarte es nicht nur Europa als einzig denkbares Zentrum gab, sondern viele Orte und Wege des Wissens, die es - das Beispiel Mexico zeigte es - miteinander zu vernetzen galt. Wissenschaft und Bildung durften keine Bildungsbrocken aufhäufen; Wirkliche Bildung zielte für Humboldt vielmehr auf eine Kernkompetenz: die Fähigkeit zum Zusammendenken als Voraussetzung gelingenden Zusammenlebens.

Alexander von Humboldt war ganz gewiß kein Bewohner eines wissenschaftlichen Elfenbeinturms. Deshalb krempelte er nach seiner Rückkehr aus Paris nach Berlin ab 1827 beherzt und entschlossen die deutsche Wissenschaftslandschaft um, versah sie mit neuen Denkmustern, mit neuen Leuchtfeuern, die bald schon von weither zu sehen waren. Als Wissenschaftsmanager, der die Fäden in der Berliner wie in der Pariser Akademie zog, sorgte er dafür, dass Leben und Bewegung in die zersplitterte Wissenschaft im deutschsprachigen Raum einzogen. Die Förderung ungezählter Talente, aber auch eine grundlegende Internationalisierung des Wissenschaftsbetriebs jener Jahrzehnte sind in einem beträchtlichen Maße ihm zu verdanken. Humboldt nutzte das weltweite Renommee, das er sich längst auch jenseits der scientific community erworben hatte.

Alexander von Humboldts Verständnis von Bildung war folglich in einem nicht nur europäischen, sondern globalen Maßstab gedacht und zielte darauf ab, ein friedvolles und freiheitliches Zusammenleben zwischen den Völkern und Kulturen zu ermöglichen. Kolonialistische Begehrlichkeiten waren ihm ebenso verhaßt wie Sklaverei oder Leibeigenschaft, die er gleichermaßen in ihren materiellen wie in ihren geistigen Folgen anprangerte. Ausgerichtet am Leben einer sich weltweit vernetzenden Gesellschaft, drängten die Humboldtschen Konzeptionen nach einer Demokratisierung und Popularisierung, nach einem neuen »Sitz im Leben« eines sich rasch verändernden Planeten. Für Humboldt stand dabei stets der Mensch im Spannungsfeld von Natur und Kultur: Die Untersuchung des Zusammenwirkens aller Faktoren bildet die eigentliche Herausforderung für eine sich erst konstituierende Weltgemeinschaft.

Umgekehrt aber bildet heute das Humboldtsche Denken eine Herausforderung für unsere Wissenschaft wie für unsere Gesellschaft - und selbstverständlich gerade auch für das im Aufbau befindliche Humboldt-Forum. Alexander von Humboldt steht ein für die lange Zeit verschüttete Tradition eines Denkens und Handelns, das nach seinem Tode so oft unwillentlich mißverstanden oder bewußt entstellt, expansionistischen Zielen geopfert oder ganz einfach totgeschwiegen wurde. Mit dem Humboldt-Forum bietet sich uns heute die wohl unwiederbringliche Chance, an die besten Traditionslinien unserer Geschichte bewußt anzuknüpfen. Denn - so könnte man mit Blick auf die aktuellen Diskussionen etwas zuspitzend formulieren - wo Humboldt drauf steht, sollte auch Humboldt drin sein.

Es gilt also, Alexander von Humboldts Mobile des Wissens in die heutige Zeit zu übersetzen. Humboldt lehrte seine Zeitgenossen wie uns Heutige nicht nur, wie man eine Entprovinzialisierung des Denkens in Gang bringt, sondern zeigte auf, daß der in verschiedenen Phasen verlaufende Prozeß der Globalisierung als Ineinanderwirken von Erfahrenem und Erfundenem die Entwicklung neuer, relationaler Logiken erfordert. Wäre das künftige Humboldt-Forum gegenüber einer Museumsinsel, die das Fraktal eines weltweiten Archipels bildet, nicht der ideale Ort, um die Tiefendimensionen der europäischen Expansionsgeschichte von vielen Orten, von vielen Logiken her neu zu beleuchten, vor allem aber auf die Dynamiken einer künftigen Weltgesellschaft zu öffnen? Dann aber müßten an die Stelle klarer institutioneller Grenzziehungen mobile Strukturierungen treten, in denen nicht nur eine gleichsam kubistisch-vielperspektivische, sondern auch eine polylogisch-dynamische Transparenz quer zu den Räumen, quer zu den Zeiten die Schaubühne böte für eine Welt als Spielfläche und Experimentierraum. Durchsichtige, verschieb- und versenkbare Wände sowie interaktive Verknüpfungsformen imaginärer, denkbarer Museen würden dann im Verbund mit rotierenden Leitungs- und Organisationsstrukturen zu unverzichtbaren Requisiten eines kulturellen Mobile, das uns weit jenseits eines bloßen »Dialogs der Kulturen« ständig neue Durchblicke und Zusammenhänge eröffnen könnte. Es ist folglich höchste Zeit, die so lange verschüttete Tradition des Humboldtschen Denkens gerade an einem solchen Ort als bislang noch immer unbeantwortete Herausforderung zu begreifen und in die Gegenwart, in die Zukunft zu übersetzen. Das Humboldt-Forum wäre hierfür die ideale Spielfläche.


Bildnachweis: Bild von Prof. Dr. Ottmar Ette von seiner Homepage (2009)

Zusammendenken und Zusammenleben.

Alexander von Humboldt als Herausforderung für das Humboldt-Forum
von Ottmar Ette

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