"After"Deutsch

Rosa Tennenbaum

Sprachenvielfalt oder amerikanisierte Einfaltssprache?
von Rosa Tennenbaum
Die fortschreitende Anglisierung unserer Sprache ist nicht nur ärgerlich, sie hat weitreichende Konsequenzen auf allen Gebieten. Besonders folgenreich ist diese Entwicklung im Bereich Wissenschaft und Bildung. Die Universitäten werden zu anglisierten Inseln, und sogar an den Schulen ist dieser Prozess in vollem Gange. Forschen und Anwenden, Denken und Sprechen werden voneinander abgeschnitten, die Gesellschaft zweigeteilt in eine Elite, die Englisch spricht und schreibt, und eine Öffentlichkeit, die sich selbst immer weniger versteht. Die Lösung liegt in der Mehrsprachigkeit; mehrere Sprachen lernen und gut beherrschen ist alte europäische Tradition und das beste Mittel gegen Anglisierung und Halbsprachigkeit.

Die Anglisierung unserer Sprache ist weit fortgeschritten, viel weiter, als vielen bewusst sein mag. Den vielen englischen Ausdrücken im Alltag kann man sich kaum entziehen, doch sie sind lediglich ein Symptom für die Untergrabung unserer Sprachfähigkeit und für eine geistige Auszehrung im fortgeschrittenen Stadium.

Der zugrundeliegende Prozess ist viel schlimmer. Das Goethe-Institut veranstaltete am 14. und 15. Juni in der Berliner Akademie der Künste ein Festival zum Thema "Die Macht der Sprache". In mehreren parallellaufenden Veranstaltungen wurde die Zukunft des "Deutsch[en] als Wissenschaftssprache" ausgelotet, der Zusammenhang zwischen "Politik und Sprache" aufgezeigt, die Rolle der Sprache als Mittel zu "Integration und Abwehr" untersucht und insgesamt eine Bestandsaufnahme präsentiert, ein Gesamtbild davon, wie es denn um das Deutsche gegenwärtig steht und wohin die Entwicklung weist.

Die fortschreitende Anglisierung ist nicht nur ärgerlich, sie hat schwerwiegende Folgen auf allen Gebieten. Am wichtigsten ist der Prozess im Bereich der Bildung und der Wissenschaft. Deutsch als Wissenschaftssprache ist ein Auslaufmodell. Im 19. Jahrhundert und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein hieß es: Germania docet – Deutsch lehrt und unterrichtet, Deutsch war die unangefochtene Wissenschaftsprache. Nach dem Krieg wurde jede zweite Arbeit in den Naturwissenschaften auf deutsch und weniger als 15% auf Englisch veröffentlicht. 1990 hatte sich dieses Verhältnis umgekehrt: 10,7% der Arbeiten erschienen noch in deutscher Sprache, 57,6% auf Englisch. Heute dürfte die Zahl bei etwa 80% liegen. Das Ansehen eines deutschen Professors hängt davon ab, wieviele Aufsätze er in internationalen, also englischsprachigen Fachpublikationen veröffentlicht, deutsche Beiträge werden zunehmend irrelevant. Über die englischen Fachjournale wird er leichter in den amerikanischen Science Citation Index aufgenommen, was wiederum bei Beförderung, bei Forschungsanträgen, bei Einladungen zu Fachkonferenzen usw. eine ausschlaggebende Rolle spielt.

Universitäten als "anglisierte Inseln"


Die Ludwig Maximilian Universität in München gibt es seit über 500 Jahren, oder besser gab es, denn jetzt nennt sie sich University of Munich. In Berlin erörtert man gegenwärtig allen ernstes die absurde Idee, die drei Universitäten zusammenzulegen und dem neuen Konstrukt den Namen "Berlin Research University" zu geben. Humboldt wäre dann endlich auch im Namen verschwunden, etwas, das einigen Leuten mehr als recht wäre. Die englischen Namen für altehrwürdige Institutionen machen nur sichtbar, was in diesen Einrichtungen seit langem und in zunehmendem Maße usus ist: 2005 wurde im Durchschnitt jede fünfte Lehrveranstaltung an deutschen Universitäten in englischer Sprache abgehandelt. In insgesamt 250 weiterführenden Studiengängen (von 1976) ist Englisch die alleinige Unterrichtssprache.

Die Naturwissenschaften und die Bereiche Wirtschaft, Medizin, Psychologie und Sozialwissenschaften sind fast ganz anglisiert. Deutsche Professoren oder Dozenten reden (und schreiben) mit deutschen Studenten auf einer deutschen Hochschule mitten in Deutschland ausschließlich Englisch. Das gleiche gilt für Kongresse. Ausländische Gäste z. B. aus Osteuropa, wo in vielen Ländern neben Russisch Deutsch die Zweitsprache ist, müssen ihre Vorträge und Gespräche auf Englisch radebrechen, weil auf den meisten deutschen Tagungen kein Deutsch gesprochen wird. Sogar, wenn das Thema: "Die Zukunft der deutschen Sprache" lautet; auch dort wurden deutsche Beiträge abgelehnt.

Der belgische Germanist an der Universität von Antwerpen, Prof. Dr. Roland Duhamel, zieht unsere sprachliche Willfähigkeit ins Lächerliche: "Die (immerhin 100 Millionen) Deutsche haben angefangen, sich für ihr Deutsch zu genieren. […] Im internationalen Kontext führen sich die Deutschsprachigen als die Missionare des Englischen auf und versuchen damit nicht nur die eigene Sprache mundtot zu machen. Auf dem Brüsseler Parkett reden sie selbst dann so etwas wie Englisch, wenn sie unter sich sind."(2) Der damalige Wirtschaftsminister Rexroth war sich nicht zu blöde, in der deutschen Universität in Shanghai seinen Vortrag für die Studenten auf Englisch zu halten; er musste dann ins Deutsche rückübersetzt werden, weil das die einzige Fremdsprache war, die die Studenten kannten. Seine Begründung für dieses absurde Verhalten lautete, ein deutscher Minister habe im Ausland Englisch zu sprechen.

Es gibt – zum Glück nur vereinzelt, aber trotzdem – es gibt Germanisten, die ihre Vorlesungen auf Englisch umstellen und deutsche Literatur in englischer Übersetzung lesen lassen wollen. Im Frühjahr widmete die Berliner Morgenpost solchen Bestrebungen an der FU einen ausführlichen Artikel.

Diese Entwicklung wird von der Politik nicht nur begünstigt, sie wird von ihr regelrecht vorangetrieben. Sämtliche unversitären Abschlüsse werden im Rahmen des sogenannten Bologna-Prozesses anglisiert, obwohl Bologna selbst das nicht verlangt. Der urdeutsche, von Humboldt geschaffene Dr. phil. wird gerade in Ph.D. umbenannt. Die Beteiligungen bei dem Exzellenzenwettbewerb der Universitäten mussten auf Englisch eingereicht werden, und bei sogenannten Evaluierungen kann es schon einmal vorkommen, dass z.B. ein Beitrag über Heines Dichtung von internationalen Experten, die des Deutschen nicht mächtig sind, beurteilt wird. Sogar die Verwaltung wird umgestellt; Sekretärinnen und nicht-wissenschaftliches Personal soll Englisch sprechen. Alle drei Ebenen: Verwaltung, Lehre und wissenschaftliche Abschlüsse sind weitgehend anglisiert, mit Deutsch kann man da nicht mehr viel ausrichten. Die Hochschulen wollen so offenbar einen Studienaufenthalt in den USA oder England simulieren, zumindest muss man den Eindruck gewinnen, wenn sogar die Schilder "ziehen" und "drücken" an den Türen durch "pull" und "push" ersetzt werden.

Die oberste Behörde, das Ministerium für Bildung und Forschung, geht dem mit schlechtem Beispiel voran: Anträge auf Förderung müssen in englischer Sprache eingereicht werden, auf Deutsch gestellte Anträge werden erst gar nicht entgegengenommen. Besucht man die Webseite des Ministeriums, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man dort des Deutschen nicht mehr mächtig ist. In den anderen Ministerien ist das übrigens nicht anders. Die Bildungs- und Forschungsministerin rühmt zwar in Reden und Interviews gern die "Schönheit der deutschen Sprache" und antwortete z. B. in der jüngsten Ausgabe des Magazins Cicero auf die Frage, ob die zunehmende Anglisierung das Deutsche bedrohe: "Sie schränkt die Schönheit und den Reichtum der deutschen Sprache ein, wirkt manchmal auch lächerlich und macht Texte nicht verständlicher. Deshalb bedroht sie die deutsche Sprache." Wie wahr.

Der gleiche Prozess zieht schon an den Schulen weite Kreise; auch dort werden z. B. Mathematik, Physik, Biologie immer öfter auf Englisch unterrichtet. Bilingualer Unterricht nennt sich das, ist es aber nicht. Der Unterricht ist monolingual Englisch. Schüler lernen die deutschen Begriffe nicht einmal mehr kennen. Und dann wundert man sich über das schlechte Abschneiden bei internationalen Vergleichsstudien.

Der Biophysiker Stefan Klein zitierte in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Juli (3) aus einer Studie über Kinder in Schweden und den Niederlanden, die von ihrem ersten Schultag an Englisch lernten. Das Fazit der Studie lautete: "We are dumber in English". Klein schreibt: "Vorlesungen auf Englisch sind dort Teil jedes Studiums, doch die Prüfungsergebnisse fallen im Schnitt zehn Prozent schlechter aus als bei Lehrveranstaltungen in der Muttersprache. In englischen Seminaren stellen und beantworten die Studenten weniger Fragen, sie wirken insgesamt hilfloser. Weder Studenten noch Lehrern ist das Problem gewöhnlich bewusst, weil alle ihre Gewandtheit im Englischen überschätzen."

Es geht um die Demokratie


Anglisierung, so wird allgemein suggeriert, sei die "Chance für Eliten in Bildung, Wissenschaft, Forschung und Commerce". Dahinter verbirgt sich auch ein Selektionsprozess: Die aufsteigende Schicht wird ausgesiebt, es gehören die dazu, die besonders gefügig sind, willig kopieren und sich anpassen. Heute steigt man nicht mehr in eine Feudalklasse auf wie zu Zeiten Friedrichs des Großen, der Aussiebungsprozess ist nicht so deutlich, weil er unter dem Banner des Fortschritts und der Modernität daherkommt. Er ist deswegen aber nicht weniger skurril. Denken Sie nur an die Powerfrau. Ein Anglist reisst da erschrocken die Augen auf, weil ihm eine Kraftwerksfrau angekündigt wird.

Es ist eine sehr subtile Art der sozialen Auslese und neuer sozialer Schichtung. Wer sich nicht zu dumm ist, bei jeder Gelegenheit Englisch daherzureden, der wird auch sonst willfähiger und anpassungsfäher sein. Wem gleichgültig ist, ob er sich präzise ausdrückt und genau verstanden wird, wird es auch sonst nicht so genau nehmen, dessen Rückgrat verspricht Geschmeidigkeit, und das ist beim Aufstieg in die sogenannten Eliten hilfreich. Querdenker werden an den Hochschulen genauso gnadenlos ausgesiebt wie in den politischen Parteien.

Englisch, so muss man feststellen, genießt bereits heute die kulturpolitische Dominanz über das Deutsche. Es ist ein Prozess im Gange wie vor 250 Jahren, nur in die umgekehrte Richtung. Die damaligen Eliten sprachen Französisch, Deutsch war die verachtete Volkssprache des gemeinen Mannes. Mit der französischen Sprache kam die französische Kultur, französisches Hofzeremoniell, französische Literatur, französischer Geschmack. Mit Lessing begann der Wandel. Er schrieb große Literatur – auf Deutsch. Er wagte es, bürgerliche Personen auf die Bühne zu bringen, bisher undenkbar. Die Bühnencharaktere in den französischen Schauspielen waren adelig, repräsentierten den Hof und parlierten selbstverständlich Französisch. Repräsentanten der niederen Schichten wie der Hanswurst oder der Stiefelknecht mussten ihre Unbildung durch gebrochenes Französisch und eingestreute deutsche Brocken zur Schau stellen.

Lessing stellte zum ersten Mal normale Bürger auf die Bühne, die große, edelmütige Charaktere sein durften. Ausschlaggebend war nicht mehr, welcher sozialen Schicht jemand angehörte, sondern welchen Charakter er besaß. Das war unerhört, eine regelrechte Revolution und leitete einen Wandel ein, der drei Jahrzehnte später in der Weimarer Klassik mit Schiller und Goethe dem Höhepunkt zustrebte. Nun wurde die Unbildung des Adels zur Schau gestellt und daran festgemacht, dass er nicht einmal richtig Deutsch reden konnte. Wilhelm von Humboldt machte mit seiner Bildungsreform diesen republikanischen Wandel allgemein. Das Alt-Griechische wurde zum Leitstern der Kultur und der Bildung erhoben, Deutsch verdrängte das Französische. An die Stelle der französischen höfischen Kultur trat ein Alt-Griechisch/Deutsch gebildetes Bürgertum. Der erste Stand verlor seine Rolle als Träger der Kultur, er trat hinter den zweiten Stand zurück. Zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands wurde das Bürgertum zum Träger der Kultur.

Heute dreht sich dieser Prozess wieder um. Die Elite spricht Englisch, der Rest ein anglisiertes Deutsch. Deutsch wird so zunehmend eine Art Dialekt, wird zur Volkssprache, die von den unteren Schichten bei niederen Arbeiten gesprochen wird. Es erhält den Charakter einer reinen Alltagssprache, die an der Entwicklung der Zukunft nicht mehr teilhat. Die Nationalsprache verliert ihre Brückenfunktion zwischen den sozialen Schichten und den verschiedenen Wissensdisziplinen und zerfällt in Dialekte.

Klein warnte in seinem Artikel in der FAZ vor einer Spaltung der Gesellschaft "zwischen den Nutzern einer Elitesprache und all den anderen, an denen die aktuellen Enwicklungen vorübergehen. Ob Deutsch eine Wissenschaftssprache bleibt oder nicht, ist darum keine Frage des Nationalstolzes. Es geht um viel mehr: um die Demokratie."

Prof. Hans-Joachim Meyer, Vorsitzender des Zentralkommittees der deutschen Katholiken und von 1990 bis 2002 Minister für Wissenschaft und Kultur in Sachsen, behauptete in seinem Vortrag auf dem Festival der Sprache des Goethe-Instituts, es gebe eine Gruppe einflussreicher Persönlichkeiten in Politik, Wirtschaft und den Naturwissenschaften, die Englisch neben Deutsch zur offiziellen Landessprache machen wollten. Andere Redner und Dikussionsteilnehmer bestätigten das. Zu den Namen, die genannt wurden, gehören der ehemalige Bildungsminister und heutige Ministerpräsident von Nordrhein Westfahlen, Jürgen Rüttgers, das Max-Planck-Institut, die Deutsche Forschungsgesellschaft – die führenden Forschungseinrichtungen in Deutschland – und der Bertelsmann-Konzern. Die Haupttriebskraft dürfte allerdings die Wirtschaft, oder besser Vertreter der multinationalen Konzerne, die sogenannten Global Player, darstellen. Dazu gesellen sich Wichtigtuerei, Imponiergehabe, Dünkelhaftigkeit. Unter Spöttern kursiert denn auch der treffende Satz: "Wer nichts zu sagen hat, sagt es auf Englisch."

Sprache ist natürlich auch ein Herrschaftsinstrument, ein Mittel, um Dominanz über andere auszuüben. "Sprache," stellte der britische Soziolinguist Ronald Wardhaugh 1987 fest, "ist ein Instrument der Politik. Sprachen sind wichtige Waffen im weltweiten Wettstreit um Meinungen und Macht." – und um Märkte. Englisch sei die Lingua franca der Globalisierung, heißt es; dieser Begriff bezeichnet den gegenwärtigen Prozess treffend. Die Lingua franca war eine "verderbte Sprache"," wie man damals sagte, heute würde man "Pidgin-Sprache" sagen, eine Mischsprache, die im Mittelalter von den Händlern im Mittelmeerraum benutzt wurde. Sie setzte sich aus Latein, Italienisch und Arabisch zusammen. Die Byzantiner und Araber nannten sie Lingua franca – fränkische Sprache, weil sie alle Westeuropäer, unahängig von ihrer Herkunft, als "Franken" wahrnahmen.

Die Lingua franca war eine Sprache, die ausschließlich den wirtschaftlichen und handelspolitischen Interessen diente. "Wer die Sprache hat, hat den Handel," das wussten auch die Kaufleute der Hanse, als sie im Spätmittelalter ihre niederdeutsche Muttersprache im Ostseeraum als Geschäftssprache durchsetzten. Nicht anders verhält es sich mit der Anglisierung. Englisch wird als Waffe eingesetzt, "vorne nimmt man den Menschen die Wörter und hinten schiebt man die Waren nach," formulierte Dr. Gawlitta vom Verein Deutsche Sprache etwas salopp. Das Englische verschafft bestimmten Ländern, bestimmten Wirtschafts- und Wissenschaftskreisen massive Wettbewerbsvorteile.

Spitzenforschung, marktgerecht

Wilhelm (2. v.l.) mit Schiller, seinem Bruder Alexander und Goethe in Jena
Wilhelm (2. v.l.) mit Schiller, seinem Bruder Alexander und Goethe in Jena

Ohne die Anglisierung wäre die Globalisierung niemals so rasant vorangeschritten. Englisch ist die Sprache der neo-liberalen Marktwirtschaft geworden, in der alles gewinnbringend vermarktet werden muss, auch die Wissenschaften. "Die Spitzenforschung spricht englisch", dahinter verbirgt sich die Erwartung nach internationaler marktwirtschaftlicher Harmonisierung des Wissenschaftsbetriebs (siehe Bologna). In dem Begriff Spitzenforschung schwingt die Forderung nach wirtschaftlicher Verwertbarkeit der dort gewonnenen Erkenntnisse mit. Spitzenforscher erkunden nicht zuletzt, wo der Markt neue Produkte braucht und wie man sie dort unterbringen kann. Der Begriff lässt vor unserem geistigen Auge nicht den typischen Gelehrten, der grübelnd in seiner Stube sitzt, aufkommen. Spitzenforscher sprechen Englisch, wie die CIO’s, die Executive Officials der Global Player, mit dem sie sich gern von den unteren Rängen abheben. Das Englisch, das sie verwenden, ist nicht die Sprache Shakespeares oder Shelleys, es ist "approcimate English", annähernd Englisch, eine Schwundstufe des "basic American", auch BSE – bad, simple English genannt, und wird von den Muttersprachlern etwas mitleidig belächelt. Im Deutschen nennt man das Halbsprachigkeit.

Bei uns wird die Anglisierung von vielen als Beweis für unsere Weltoffenheit und Wettbewerbsfähigkeit gefeiert, im Ausland sieht man das anders. Der wissenschaftliche Fachbegriff für dieses Verhalten lautet nicht "cosmopolitanism" – Weltoffenheit, sondern "linguistic submissiveness" – sprachliche Unterwerfung.

In den Naturwissenschaften mag man wissenschaftliche Berichte in "approximate" Englisch verfassen können, da es dort hauptsächlich um Datenermittlung, um Information geht und nur in den seltensten Fällen wirklich Wissen geschaffen wird. Eberhard Straub, Wissenschaftsjournalist und Herausgeber des Magazins Wirtschaft & Wissenschaft, wirft seinen jüngeren Kollegen wachsenden Analphabetismus vor: "Wissenschaftler, und das meint heute vor allem Naturwissenschaftler, können es sich leisten, fast Analphabeten zu bleiben. Sie brauchen die Sprache nicht mehr, und ihre Formeln und Verkürzungen kein Publikum und keine Öffentlichkeit. Ihre Daten und Informationen präparieren ,Übersetzer‘ – meist Journalisten oder Sachbuchautoren."(4)

Außerdem verfügen die Naturwissenschaften über einen ausgeprägten Fachjargon und zahlreiche Formalismen, die zur Standardisierung einladen. Aber: Fächerspezifische Termini werden so nicht entwickelt und bereits existierende gehen verloren und sterben aus. Das ist besonders folgenreich, weil viele wichtige wissenschaftliche Begriffe zuerst auf Deutsch gefasst und danach von Wissenschaftlern in anderen Sprachkulturen übernommen wurden. Es bildet sich eine fatale Zweiteilung: Hier die Forschung, dort die Anwender. In der Medizin z.B. werden die Kliniker von der Forschung abgeschnitten, wissenschaftliche Durchbrüche geraten sehr viel langsamer in die Praxis, weil sie erst rückübersetzt werden müssen. Denn obwohl die Medizin Englisch spricht und publiziert, sagen nur 20% der Mediziner und 29% der Medizinstudenten, dass ihre Englischkenntnisse ausreichten, um einer Vorlesung in der Tiefe folgen zu können. Die Fachtermini verstehen nur 11%.

Das inhaltliche Niveau leidet, kontroverser Meinungsaustausch unterbleibt, weil man in der fremden Sprache nicht exakt das ausdrücken kann, was man meint, und weil man den englischen Muttersprachlern ohnehin unterlegen ist. Die Sprache verkommt zu einem bloßen Werkzeug, um vorgefertigtes Wissen weiterzugeben; neues Wissen schaffen, wie schon der Begriff Wissenschaft fordert, kann man mit einer Kombination aus approximate Englisch und einer Schwundstufe des Deutschen nun einmal nicht.

Das lässt sich nicht dadurch beheben, dass man die Englischkenntnisse vervollkommnet, obwohl das unbedingt notwendig ist. Es sollte nicht nur gutes Englisch gelehrt werden, auch andere Sprachen. Doch die Rolle der Muttersprache bleibt prägend. Denken gründet auf Sprache, und die Muttersprache beeinflusst grundlegend, wie wir denken.

Vom Wesen der Sprache


Aber was ist Sprache eigentlich? Darüber gibt es ganz unterschiedliche Auffassungen. Für Noam Chomsky vom Massachusets Institute of Technology, den Begründer der Linguistik, ist sie eine Art Briefträger zwischen Sender und Empfänger. Sprache, so behauptet er, habe keinerlei Wirkung auf kognitive Vorgänge, sie diene lediglich dazu, "mentale Postzugänge zwischen Adressaten zuzustellen".

Zu den Vertretern der Gegenposition gehört z. B. Michael Thomasello, Direktor am Max-Planck-Institut in Leipzig. Er betrachtet den Menschen nicht als eine kompliziertere Tierform, sondern definiert ihn in erster Linie als soziales und kulturelles Wesen. Ein Kind lernt, weil es herausfinden will, was seine Eltern ihm sagen, und es sich selbst verständlich machen will, meint er. Die treibende Kraft sei das Soziale, die Kultur, nicht die Sprachfähigkeit an sich.

Dieser Streit ist alt; die ältesten schriftlichen Zeugnisse darüber stammen aus der griechischen Antike. Chomskys Theorie geht zurück auf Aristoteles, für den Sprache lediglich ein Mittel zur Benennung von Denkinhalten darstellte. Sprache beruhe auf Konvention, auf der allgemeiner Übereinstimmung, dass ein Tisch Tisch genannt wird und nicht Stuhl z.B. Wörter sind demnach willkürliche Zeichen, vergleichbar mit Etiketten, die auf die Gegenstände geklebt werden, damit wir sie unterscheiden können, sie besitzen keine innewohnende Wahrheit.

Platon vertritt eine ganz andere Auffassung von Sprache. In seinem Dialog Kratylos geht es um die "Richtigkeit der Wörter". Dinge besitzen ihre eigene Wesenhaftigkeit, die unabhängig von äußeren Einflüssen besteht. Ein Tisch bleibt immer ein Tisch, auch wenn jemand plötzlich auf die Idee käme, ihm einen anderen Namen zu geben. Das Wort muss diese Wesenhaftigkeit ergreifen und klanglich und inhaltlich abbilden, es muss wahr sein. "Das Wort ist ein belehrendes Werkzeug und ein das Wesen [des Bezeichneten] unterscheidendes und sonderndes". Sprache, die Gesamtheit der Wörter, ist nicht willkürlich, sie gründet nicht "auf Vertrag und Übereinkunft", nicht auf "Anordnungen und Gewohnheit", betont Platon. Und ebenso wenig auf Mathematik oder auf Informationstheorie.

Auch Wilhelm von Humboldt nennt die Annahme, dass "das Wort nur ein Zeichen einer unabhängig von ihm vorhandenen Sache" sei, eine "beschränkte Vorstellung". Und er stellt richtig: "Sprache beruht freilich auf Konvention, insofern sich alle Glieder eines Stammes verstehen, aber die einzelnen Wörter sind zuerst aus dem natürlichen Gefühl des Sprechenden gebildet, und durch das ähnliche natürliche Gefühl der Hörenden verstanden worden."(5) Wörter lassen Bilder in unserer Vorstellung entstehen, die dem, was sie bezeichnen, möglichst genau entsprechen müssen. Wie das Wort Vortrag – ich trage etwas zu dem anderen hin; oder mitteilen – ich teile etwas mit dem anderen, indem ich es ihm erzähle; ohnmächtig – ich bin ohne Macht über mich, weil ich bewusstlos, also ohne Bewusstsein bin. Das Deutsche zeichnet sich gerade durch diese enge Übereinstimmung zwischen dem Begriff und dem zu Bezeichnenden aus.

An diese Bilder, die "richtige" Wörter in unserer Vorstellung wachrufen, heften sich Assoziationsketten, Emotionen, Vergangenes und Gegenwärtiges. Ob ich von einem Heranwachsenden spreche oder von einem youngster, ist ein großer Unterschied. Mit dem Begriff Heranwachsender verbindet sich automatisch die Vorstellung, dass sich die Person noch in der Entwicklung befindet, noch nicht erwachsen und deshalb schutzbedüftig ist, individuelle Erfahrungen, die ich mit Heranwachsenden gemacht, Geschichten, die ich über sie gehört und gelesen habe, gesellen sich dazu, in unserem Kopf ensteht ein vielschichtiger Begriff, der trotzdem die Sache genau fasst. Youngster erweckt keinerlei Vorstellung in unserem Kopf, das Wort und die Erscheinung sind voneinander abgeschnitten.

Das gleiche gilt für die Ansammlung aller Wörter, die Sprache. Nationalsprachen charakterisieren sich formal durch ihre jeweiligen Lautgesetze, ihre Gesetze zur Wortbildung und ihre Grammatik. Darüberhinaus werden sie durch die historischen und kulturellen Prozesse, die zahllosen Beiträge der Mitglieder der Sprachgemeinschaft und andere Einflüsse, die über die Jahrhunderte auf sie wirkten, individuell geprägt. Oder in Humboldts Worten:

"Alles, was Jahrhunderte hindurch auf ein Volk einwirkt, findet in seiner vaterländischen Sprache, die ja selbst dadurch mitgebildet ist, freiwillig erwiedernde Begegnung. Es ist überhaupt die Natur der Sprache, sich an alles Vorhandne, Körperliche, Einzelne, Zufällige zu heften, aber dasselbe in ein idealisches, geistiges, allgemeines, notwendiges Gebiet hinüberzuspielen, und ihm darin eine an seinen Ursprung erinnernde Gestaltung zu leihen. [...] Sie bezeichnet die Gegenstände, leiht den Empfindungen Ausdruck, besitzt ihr eigentümliches Lautsystem, ihre Analogien der Wortbildung, ihre grammatischen Gesetze. […] An dieser Form leitet sie die Nation, aber umschlingt sie auch beschränkend, mit dieser eröffnet sie ihr die Welt… [D]as Geistige kann sich nur durch sie Geltung verschaffen. Sie vermittelt die Verschiedenheit der Individualitäten, heftet durch Überlieferung und Schrift das sonst unwiederbringlich Verhallende, und hält der Nation, ohne dass diese sich dessen selbst einzeln bewusst wird, in jedem Augenblick ihre ganze Denk- und Empfindungsweise, die ganze Masse des geistig von ihr Errungenen [vor Augen]…"(6)

Alles, was je geäußert, gedacht, erlebt und gelitten wurde, äußerte sich in Sprache, und die ganze Masse von Geschehnissen und Gedachtem ist uns beim Sprechen auf einen Schlag gegenwärtig und wird gleichzeitig durch unseren Beitrag vermehrt und neu geprägt. "Denn die Sprache," so Wilhelm weiter, "ist ein selbständiges, den Menschen ebensowohl leitendes, als durch ihn erzeugtes Wesen." Wörter lassen sich nicht auf die Buchstabenfolge, Sprachen nicht auf die Laut- und Grammatikgesetze beschränken, sie sind Metaphern, weil sie Assoziationsketten in unserem Kopf anstoßen.

Wilhelm hatte zahlreiche Sprachen untersucht, und er gelangte zu der Einsicht, "dass die Verschiedenheit der Sprachen in mehr als einer bloßen Verschiedenheit der Zeichen besteht, dass die Wörter und Wortfügungen zugleich die Begriffe bilden und bestimmen, und dass […] mehrere Sprachen in der Tat mehrere Weltansichten sind."

Der menschliche Geist ist unendlich, er hat die unterschiedlichsten Wege eingeschlagen, sich die Welt anzueignen. Für Humboldt ist "[v]ermutlich […] der eigentliche Grund der Vielheit der Sprachen das innere Bedürfnis des menschlichen Geistes, eine Mannigfaltigkeit intellektueller Formen hervorzubringen."(7)

Wie unterschiedlich die Welt in den verschiedenen Sprachen aufgefasst wird und wie sich das auf das Denken und das Selbstverständnis des Menschen auswirkt, darauf soll das folgende Beispiel ein Schlaglicht werden. Aus Goethes bekanntem Gedicht "Ein Gleiches" wird, ins Japanische übersetzt, etwas ganz anderes:

Ein Gleiches

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.


Die Rückübersetzung aus dem Japanischen:

Stille ist im Pavillon aus Jade.
Krähen fliegen stumm
Zu beschneiten Kirschbäumen im Mondlicht.
Ich sitze
Und weine.


Ganz andere Metaphern finden sich hier, die eine ganz andere Wirkung erzielen. Die japanische Übersetzung wirkt auf uns viel ernster als das Original, obwohl hier vom Tod die Rede ist; da spricht einer, der mit sich und der Welt im Reinen ist, der ein erfülltes und zufriedenes Leben führt. Das Japanische hingegen erweckt einen Anflug von Verzweiflung – für uns, nicht für einen Japaner, denn die Metaphern Krähen, beschneite Kirschbäume, Mondlicht wecken in ihm ganz andere Gemütszustände als in uns. Hier sieht man sehr schön, dass die Metaphern durch die Kultur geprägt wurden.

"Sprache ist [also] durchaus kein bloßes Verständigungsmittel, sondern der Abdruck des Geistes und der Weltansicht des Redenden", sie ist "das Komplement des Denkens" (Humboldt) oder, wie Herder es ausdrückt: "Sprache ist ein großer Umfang sichtbar gewordener Gedanken." An diesem Vergleich kann man das sehr schön sehen.

Muttersprache und Kreativität

Vor diesem sprachphilosophischen Hintergrund erhalten die Entwicklungen im zeigenössischen Deutsch eine ganz andere Bedeutung. Wissenschaftliches Denken ist poetisches Denken, denn alles Denken, das diesen Begriff verdient, ist metaphorisch. Man kann nichts Neues entdecken, wenn man nur bereits Bekanntes zusammenaddiert. Ein Entdecker muss die eingefahrenen Pfade verlassen, sich in unbekanntes Terrain wagen. "Über allen Gipfeln ist Ruh" bedeutet Windstille und gleichzeitig innere Ruhe und alles, was wir damit verbinden: Stille, Ausgeglichenheit, Zufriedenheit, Heiterkeit, Nachdenklichkeit, Freiheit.


"Freie Stimmung," nennt Schiller diese Geistes- und Gemütsfassung, in die uns dieses kleine Gedicht versetzt. Diese paar Zeilen verleihen unseren Gedanken Flügel. Um sagen zu können, was in dem Gedicht steht, müsste man einen langen, langweiligen Aufsatz schreiben, und man hätte es immer noch nicht genau gefasst.

In dieser Domäne unseres Geistes denken wir kreativ. Hier ist wissenschaftliches und künstlerisches Denken angesiedelt, hier können wir ganz neue Ideen schöpfen, hier werden neue Konzepte geboren. Und hier dürfte auch der Grund dafür liegen, warum alle großen Naturwissenschaftler in der Regel ausgezeichnete Musiker waren.

Mit jeder Fremdsprache, die man studiert, lernt man eine andere Sicht der Welt kennen, andere Formen des Denkens. Jede ist eine andere "Offenbarwerdung der menschlichen Geisteskraft," und Wilhelm von Humboldt war deshalb der Meinung, dass es möglichst viele Sprachen geben sollte. Die Welt des Universum und die Welt des Geistes sind unendlich, und je mehr Sprachen es gibt, desto genauer werden diese weiten Gebiete ausgelotet. Die Philologie, das Sprachenstudium, bildete das Rückgrat im berühmten Humboldtschen Bildungssystem. Ein Schüler verließ das Gymnasium mit profunden Kenntnissen in mindestens vier modernen Fremdsprachen. Die Grundlage bildeten Deutsch, die Muttersprache, und Alt-Griechisch; dann lernte man Latein und, wenn möglich, Sanskrit oder Hebräisch. Das war aber an den meisten Schulen nicht möglich, weil es zu wenig Lehrer für diese beiden Fächer gab.

Das Studium des Alt-Griechischen bildete das Zentrum im Humboldtschen Bildungssystem, Griechisch, nicht Latein. Es gab viele Gründe dafür. Das Griechische war eine höchst ausdrucksvolle Sprache mit perfekter Grammatik und herrlichem Wohlklang. Es war die Muttersprache der Musen, zu denen nicht nur die schönen Künste, sondern auch die Mathematik und die Astronomie zählten. Es war die Sprache des Geistes und die Sprache der menschlichen Freiheit, denn anders als in Rom wurde in Athen die Freiheit des einzelnen als Garant für die Wohlfahrt der Polis angesehen. In Rom hingegen wurde der einzelne den Machtinteressen des Staates aufgeopfert. Außerdem haben die Römer wenige originären Entdeckungen hervorgebracht, sie haben im wesentlichen die Griechen lediglich kopiert. Die Griechen mit ihrer Richtung auf das Ideale waren für HUmboldt besser zur Erziehung der Jugend geeignet als die Römer mit ihrem Streben nach Macht, nach Unterdrückung und Expansion.

Der Schüler lernte also Alt-Griechisch, Latein, dann Französisch und Englisch, Italienisch und Spanisch. Damit verbunden war ein umfangreicher Literaturkanon in der jeweiligen Sprache. Man konnte beim Schulabgang nicht mal gerade einigermaßen dem Programm von MTV folgen, sondern besaß gleich in mehreren Sprachen so profunde Kenntnisse, dass ein Abiturient z. B. die großen Werke der Geistesgeschichte des jeweiligen Landes im Original lesen und verstehen konnte.

Das ist die Antwort auf den heutigen Sprachzerfall. Wir werden alle zusehends zu Halbsprachlern, viele unserer Zeitgenossen sind es schon; sie sprechen weder gutes Deutsch noch richtiges Englisch. Das beste Mittel gegen die Anglisierung ist die Kenntnis mehrerer Sprachen und natürlich der Muttersprache. Damit erhielte auch das Übersetzen wieder mehr Bedeutung. Die zahlreichen Übersetzungen großer Werke der Weltliteratur haben die Entwicklung des Deutschen, seinen Wortreichtum und seine Ausdrucksfähigkeit, sehr begünstigt. Wenn man übersetzt, muss man immer wieder nach neuen Begrifflichkeiten suchen, und das erhält eine Sprache jung. Wenn sie hingegen nur noch passiv fremde Ausdrücke aufnimmt, die nicht verdaut, also nicht mehr einverleibt werden sondern Fremdkörper bleiben, vergreist sie. Diesen Prozess erleben wir gegenwärtig.

Europa war immer mehrsprachig, Wissenschaftler haben immer in verschiedenen Sprachen korrespondiert, publiziert und gelesen. Der Vormarsch des Englischen ist alles andere als ein Fortschritt. Auch hier lautet die Antwort: Mehrsprachigkeit. Jede Sprache bietet ein eigenes Erkenntnispotential, weil jede die Wirklichkeit spezifisch abbildet, und jede eröffnet so neue gedankliche Standpunkte. Die Wissenschaft kann und darf auf dieses Potential nicht verzichten.

Stefan Klein machte in seinem Artikel in der FAZ einige Vorschläge, wie Deutsch als Wissenschaftssprache gestärkt werden kann:

Forschungsberichte sollten ruhig weiter auf Englisch verfasst werden, meint er, darin stünde ohnehin nichts von allgemeiner Bedeutung und sie würden sowieso nur von ganz wenigen Spezialisten gelesen, die dieses Fachchinesisch verstehen könnten. Für die Hochschulen schlägt er vor, dass, wenn Abschlussarbeiten auf Englisch verfasst werden, ihnen eine ausführliche allgemein verständliche Zusammenfassung auf deutsch beigefügt werden sollte, die in die Examensnote eingeht. Anträgen auf öffentliche Förderung sollten eine ausführliche deutsche Inhaltsangabe beigelegt werden müssen, die jeder interessierte Laie versteht. "Diese Mühe schuldet jeder Forscher der Demokratie," meint er.

Außerdem sollte Wissenschaft wieder erzählt werden. Klein schlägt vor, mit einem hochdotierten Preis Wissenschaftler zum Schreiben anzuregen. Das beste wissenschaftliche Gesamtwerk, der beste Essay, den besten Forschungsbericht, das beste Lehr- und Sachbuch sollte jeweils prämiert werden. Aus den Lesefrüchten der Jury sollte dann ein Jahrbuch der besten deutschen Wissenschaftsprosa zusammengestellt werden. "Ob und wie wir die Sprache in der Wissenschaft pflegen, hängt letztlich davon ab, wie wir das Unternehmen Wissenschaft insgesamt begreifen. Wissenschaft ist auch eine Erzählung von Menschen, die auszogen, die Welt zu begreifen und zu verbessern. Nur wenn wir wieder lernen, Wissenschaft zu erzählen, hat Deutsch als Sprache der Wissenschaft eine Zukunft," schreibt Stefan Klein.

Deutsch schreiben, schwierige Sachverhalte und Gedankenprozesse einem allegemeinen Publikum nahe bringen, schafft Klarheit im eigenen Kopf und fördert die Sprache allgemein. Man wird dann auch die erstaunliche Ausdruckskraft des Deutschen wiederentdecken, denn noch ist sie da, wenn auch die Kluft größer wird.

Ein herrliches Beispiel dafür gibt es derzeit in Berlin zu hören und zu sehen – in der Aufführung von Schillers Wallenstein-Trilogie in der Inszenierung von Peter Stein. Sämtliche Stimmen, auch in den Feuilletons, waren, sind von Schillers Sprache hingerissen. Dass man sich so mitteilen kann! Dass man genau und facettenreich über sich und die anderen Rechenschaft ablegen kann, etwas, das in den Vorabend-Soaps in der Regel mit dem einzigen Wort "Scheisse" zusammengefasst wird. Nun ist Schiller besonders sprachgewaltig, doch das hätte ihm wenig genützt, wenn die Sprache ihm diese Ausdrucksmöglichkeit nicht geboten hätte. In diesem Stück offenbart sich die Macht der Sprache in ihrem ganzen Umfang, in ihrer ganzen Tiefe und ihrem herrlichen Wohllaut.

Sprache ist "unser geistiger Haushalt", wie Herder es ausdrückte, sie ist der "Spiegel des Verstandes", wie Leibniz meinte. In diesem Licht stehen wir ziemlich armselig da. In unserer Sprache offenbart sich die Leere in unserem Kopf, und hier liegt auch die Umkehrung dieses Dilemmas. Mehrere Fremdsprachen lernen und die Kunst des Übersetzens wieder kultivieren, sind wichtige Hilfmittel gegen den Sprachzerfall, aber mehr auch nicht. Umkehren wird sich dieser Prozess erst, wenn wir uns wieder mit großen Ideen befassen, denn unsere Sprache kann sich nur positiv weiterentwickeln, wenn wir einander Bedeutendes zu erzählen wissen.

Fußnoten:


(1) AfterDeutsch beschreibt den Zustand des zeitgenössischen Deutsch gleich zweifach: Das mittelhochdeutsche Wort after bedeutet minderwertig, schlecht. In älteren Texten stößt man z. B. auf das Wort Aftermuse – Gossendichtung oder Afterbildung – Halbbildung, heute ist es aus der Mode gekommen. Das englische Wort after ist eine Präposition und heißt übersetzt nach, hinter. AfterDeutsch meint also schlechtes Deutsch sowie nach dem Deutschen.

(2) Roland Duhamel, Offener Brief an die deutsche Sprachgemeinschaft. Verein Deutsche Sprache, Presseerklärung vom 6.7.2007.

(3) Stefan Klein, Dümmer auf Englisch. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6.7.2007, Rubrik Geisteswissenschaften.

(4) Eberhard Straub, Welche Sprache die Wissenschaft schreibt. In: Wirtschaft und Wissenschaft, Heft 1/2007

(5) Wilhelm von Humboldt, Latium und Hellas, in W. v. Humboldt, Werke in fünf Bänden, Band II, Stuttgart, 3.1979.

(6) Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus, in W. v. Humboldt, Werke in fünf Bänden, Band III, Stuttgart, 5.1979.

(7) Humboldt, Thesen zur Grundlegung einer Allgemeinen Sprachwissenschaft, Punkt 4.

Bildnachweis:


Bild 2: Wilhelm (2. v.l.) mit Schiller, seinem Bruder Alexander und Goethe in Jena, http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Weimarer_Klassik.jpg

Bilder 1 und 3: Rosa Tennenbaum während ihres Vortrages (Fotos: Heiko Ziemann)

"After"Deutsch

Sprachenvielfalt oder amerikanisierte Einfaltssprache?
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